Last-Minute-Lerntipps von einer Gedächtnis-Weltmeisterin
Frau Karsten, Sie sind dreifache Frauen-Gedächtnis-Weltmeisterin. Wie trainieren Sie ihr Gedächtnis?
Das wird Sie jetzt vielleicht erschüttern, aber die schlechte Nachricht ist, dass sich das Gedächtnis tatsächlich kaum trainieren lässt – vielleicht nur so ca. 20-30 Prozent.
Das verstehe ich nicht ganz...
Nun, es ist durch seinen täglichen Gebrauch eigentlich schon recht gut trainiert, aber viel wichtiger ist eigentlich die Frage, wie man das Gedächtnis optimal nutzen und dadurch wirklich effektiv lernen kann.
Okay und wie haben Sie es dann zum Titel geschafft?
Durch Gedächtnistechniken sind Leistungssteigerungen von einigen hundert bis tausend Prozent möglich! Ich habe mir beispielsweise einen Lernplan erstellt und mehrere Techniken miteinander verknüpft. Darin habe ich festgehalten, wie und in welchem Zeitraum, ich meine Leistung steigern möchte und meine Lernziele erreichen will.
Des Weiteren habe ich auch meine Motivationsfaktoren in diesen Plan integriert, damit ich Phasen einer potenziellen Frustration durchstehe und ich habe den Plan mit Belohnungen sowie Bestrafungen ergänzt. Alle meine Ergebnisse habe ich regelmäßig während des Lernens notiert.
Wie haben Sie das umgesetzt?
Ich habe mit meinem Ehemann Gunther Karsten, der ebenfalls mehrfacher deutscher Gedächtnisweltmeister ist, um verschiedene Dinge, wie zum Beispiel die Zubereitung des Abendessens gewettet.
Allerdings ist die Motivation bei jedem Menschen individuell anders und sie ändert sich auch meist mit dem Alter. Doch für effektives Lernen sollte man sie in jedem Fall kennen und herauskitzeln. Und das geht nur über intensive Selbstreflexion. Jeder sollte sich fragen, wieso und warum er jetzt für die Klausur büffelt...
Haben Sie eine favorisierte Technik?
Es gibt zwar eine Reihe von Gedächtnistechniken, die nicht nur das Lernen beschleunigen, sondern vor allem das Abrufen des Gelernten bei Bedarf erleichtern, doch meine beliebteste Technik ist die brillante Loci-Methode.
Wie funktioniert die Loci-Methode?
Das Prinzip der Loci-Methode ist nach ca. eineinhalb Stunden tiefergehend verstanden und man kann bereits damit arbeiten. Sie funktioniert wie folgt: Man geht anfangs wortwörtlich eine Route in einem Raum, wie dem Wohnzimmer, ab.
Ah, daher der Name! Aber wie funktioniert sie?
Genau, der Name der Loci-Methode leitet sich aus dem Lateinischen von dem Wort locus, der Ort, ab. Sprache ist komplex und abstrakt. Der Mensch denkt allerdings in Bildern.
Das heißt, eine in ein Bild umgewandelte Information wird in unserem Beispiel zuerst mit einem Gegenstand im Wohnzimmer assoziiert, der sich auf unserer Loci-Route befindet. Jetzt haben wir ein klares Mentalbild im Kopf.
Damit wir uns letzteres noch besser einprägen können, verknüpfen wir es mit einer imaginierten, möglichst aktiven Handlung. Die genaue Beschreibung würde sicher zu weit führen. Mein Mann hat zu dieser Methode ein Buch mit dem Titel „Erfolgsgedächtnis“ veröffentlicht.
Das klingt alles sehr theoretisch...
Angenommen ich bin dabei, einen Vortrag mit mehreren Power-Point-Folien vorzubereiten und meine erste Folie dreht sich um das komplexe Themengebiet Finanzen, dann kann man sich darunter erst einmal nicht viel vorstellen. Also schaffe ich dazu ein Bild. Ich gehe auf meiner Loci-Route zu meinem ersten Wegpunkt.
Ich wähle den Kachelofen. Zielstrebig gehe ich darauf zu und stelle mir nun vor, wie ich Geldscheine (steht für den Begriff Finanzen) ins brennende Feuer schmeiße. Meine zweite Folie behandelt das Thema Urlaub, also gehe ich zum Schrank und stelle mir vor, wie ich ein Reisemagazin (steht für den Begriff Urlaub) aus einer Schublade ziehe, auf dem mein Lieblingsurlaubsort abgebildet ist. Und so fort...
Wofür eignet sich die Loci-Methode am Besten?
Es ist eine sehr wirkungsvolle Gedächtnistechnik, die insbesondere für das Abspeichern von großen Informationsmengen geeignet ist. Ich nutze diese Technik häufig für meine Vorträge, Präsentationen, beim Lernen und im Coaching.
Gibt es noch weitere Techniken?
Die gibt es selbstverständlich. Da wäre beispielsweise das Master-System. Es eignet sich hervorragend, um sich lange Zahlenketten, Geschichtsdaten, Dosierungen etc. zu merken. Es funktioniert hervorragend in Kombination mit der Loci-Methode. Und so geht’s: Eine abstrakte Information wird nach bestimmten Regeln in konkrete Bilder übersetzt.
Angenommen ich habe eine mehrstellige Zahl, wie eine IBAN-Nummer, dann fasse ich dreistellige Zahlen zu einer Einheit zusammen und gebe ihnen ein Bild. Das mache ich solange, bis die Zahl in Bildern kodiert ist. Letztere verknüpfe ich wiederum miteinander und baue so eine Geschichte auf. Des Weiteren kann auch eine Mindmap beim Lernen unterstützen.
Ich nehme einen Hauptbegriff und schreibe ihn auf ein Blatt. Davon gehen dann mehrere Äste zu anderen verwandten Themenfeldern. Das mache ich am besten mit Farbe, denn unser Gehirn liebt die Visualisierung und je plastischer, bunter und aussagekräftiger etwas ist, desto besser können wir es uns merken. Auch das Schreiben und Malen unterstützt uns beim Lernprozess, deswegen halte ich auch vom reinen Lernen am Bildschirm nicht viel.
Klingt vielversprechend. Und wie halten Sie sich jetzt mental fit?
Natürlich durch tiefgehende Gespräche mit meinem Partner oder Freunden, durch ständiges Ausleben meiner Lernneugierde und auch durch das regelmäßige Dart-Spielen.
Letzteres macht nicht nur Spaß, sondern ist eine gute Konzentrationsübung, bei der man immer wieder hautnah erfährt, wie wichtig Fokus, Selbstreflexion und die innere Einstellung für hohe Leistungserbringung sind. Zudem praktiziere ich autogenes Training. Das ist eine tolle Regenerations- und Konzentrationsübung, die unser Nervensystem beruhigt.
Gibt es sonst noch etwas, das die Hirnleistung optimiert?
Joggen, Yoga oder Sport, eine gesunde Ernährung, mentale Herausforderungen wie Denksportaufgaben und Logikrätsel und/oder Übungen zur Stressreduktion wirken sich in jedem Fall positiv auf das Gehirn aus.
Inwiefern wirken sich Tageszeit, Gesundheitszustand, Schlafrhythmus und Umgebung auf den Lernprozess aus?
Alle diese vier erwähnten Faktoren spielen eine wichtige Rolle beim Lernen. Wer beispielsweise eigene “Konzentrations-Peaks” während des Tages (und seinen eigenen Biorhythmus) kennt, kann optimal seine Lernphasen einplanen.
In den Büchern von Matthew Walker sind verschiedene Prozesse während des Schlafes beschrieben, die einen großen Zusammenhang mit dem Gebiet des Lernens haben (wie z.B. die Konsolidierung des Wissens, damit ist eine Informationsfestigung im Langzeitgedächtnis gemeint).
Genauso hat unser Gesundheitszustand Einfluss auf den Lernprozess und bringt uns entweder zu einer positiven oder negativen Denkeinstellung. Wer sich Sorgen macht oder Ängste um die Gesundheit hat, kann sich wahrscheinlich auch nicht voll oder eher schwieriger konzentrieren. Und wer sich nicht konzentrieren kann, kann auch nicht optimal lernen.
Sie sind nicht nur Gedächtnis-Profi, sondern unterrichten auch aktiv als Dozentin. Welche Tipps geben Sie Studierenden zur Prüfungsvorbereitung mit an die Hand, wenn es schnell gehen muss?
Meine fünf Tipps für alle, die auf den letzten Drücker lernen:
- Finde den Grund für dieses zu späte Lernen! Fehlt es Dir an Motivation für das Thema? Mangelt es dir an gutem Zeitmanagement? Planst du unrealistisch oder sogar gar nicht? Hast du deine kurz- und langfristigen Zielsetzungen abgeklärt? Abhängig von den Antworten wäre es dann wirklich wichtig, sich nach der Prüfung näher mit der fehlenden/mangelnden Kompetenz zu beschäftigen. Oft helfe ich nicht nur Studierenden beim Thema „Lernoptimierung“, sondern coache sie dann auch gerade bzgl. solcher Themen im bedeutenden globalen Umfeld des Lernens.
- Optimiere deine Konzentrationsfähigkeit und limitiere Störfaktoren wie z. B. Handy, TV, Musik, Gespräche in deiner Nähe, bewegliche Gegenstände wie z. B. die herumlaufende oder miauende Katze.
- Nutze einen Lernrhythmus – eine Lernphase mit voller Konzentration dauert ca. 45 Min. und danach kommt eine ca. 5-15 Min. lange Pause (oder auch 50:10 Rhythmus).
- Male eine große Mind-Map für den Lernstoff (z. B. auf einem Flipchart-Papier). Unser Gedächtnis liebt Bilder, Farben, Symbole, logische Strukturen und System. Auch die Handbewegung beim Malen unterstützt den Lernprozess. Visualisiere dann die ausgearbeitete Mind-Map.
- Verschiedene Themen an verschiedenen Orten lernen. Schon die Erinnerung allein, dass ich z. B. die Anatomie der Hand in der Nähe von einer Kunsthalle gelernt habe und die Anatomie vom Fuß z.B. im Park beim Stadion, kann sehr hilfreich sein. Wir lernen assoziativ auch mit der Umgebung.
Was sollten Studierende vor der Klausur auf gar keinen Fall machen?
Ich rate davon ab, zu viel Koffein und Energydrinks zu sich zu nehmen. Dieser „Boost“ kann bei manchen Personen den umgekehrten Effekt haben. Anstatt, dass sie nun konzentriert und fokussiert auf die Aufgaben sind, versetzt es sie in eine Art Stresssituation und die Ruhe ist dahin.
Über Dr. Michaela Karsten
Dr. Michaela Karsten ist mehrfache Frauen-Gedächtnis-Weltmeisterin, Guinness-Rekordlerin, promovierte Medizinerin, Autorin von zahlreichen Fachartikeln über das Gehirn & Gedächtnis.
Sie gibt ihre mehrjährigen Erfahrungen im Gedächtnissport in Form von verschiedenen Gedächtnisseminaren, Workshops und Vorträgen weiter.
Ihr Unternehmen MindKarat hat sich auf folgende Themen spezialisiert: Lern- & Gedächtnistechniken, Konzentration, Kreativität, Denken, Stressmanagement, Kommunikation und Mental Coaching.
Zu ihren Kunden zählen große internationale Firmen, Trainingsfirmen & Universitäten. Sie ist professionelles Mitglied der GSA e.V. (German Speakers Association), MENSA Mitglied (Verein für Menschen mit einem IQ über 130) und DVPJ-Mitglied (Deutscher Verband der Pressejournalisten).
(THWA)