Die Borderline-Störung
Der Begriff Borderline rauscht seit Jahren regelrecht inflationär durch die Sozialen Medien. Viele denken, wer sich selbst verletzt, zum Beispiel durch tiefe Schnitte in die Haut, ist automatisch ein:e „Borderliner:in“. Im Netz flanieren noch mehr solcher Fehlannahmen. Wir erklären dir, was wirklich hinter dieser Diagnose steht.
Seelische Erkrankungen in der Trendwende
Wir alle können uns glücklich schätzen! Weißt du, warum? Weil wir immer mehr über seelische Erkrankungen wissen und zunehmend offen darüber sprechen können. Viele Jahre wurden Menschen mit Depressionen, Schizophrenie und ähnlichem einfach pauschal für verrückt erklärt und im schlimmsten Fall weggesperrt. Diese Zeiten sind zumindest hier in Deutschland vorbei. Es gibt mittlerweile Hilfsangebote, Therapien und teilweise auch Medikamente.
Trotz zunehmender Aufklärung gibt es dennoch Verzerrungen in der Wahrnehmung der (vermeintlich) Gesunden. Manches wird dramatisiert, andere Krankheitsbilder werden regelrecht romantisiert oder popularisiert. Zu letzterem gehört auch die Borderline-Störung.
In manchen Gruppen wird es als chic empfunden, Narben an den Armen zu haben und ein wenig lost & wasted zu wirken. Leider ist rein gar nichts an dieser psychischen Störung chic, ganz im Gegenteil, es handelt sich um eine äußerst ernstzunehmende seelische Erkrankung, die Hilfe erfordert.
Was ist das Borderline-Syndrom, einfach erklärt?
Das Krankheitsbild gehört zu den Persönlichkeitsstörungen. Dabei gibt es unterschiedlich starke Ausprägungen – manche Betroffene haben nur leichte Beeinträchtigungen, für andere ist die Problematik deutlich ausgeprägter und durchdringt ihr ganzes Leben. Außerdem handelt es sich um einen langfristigen Zustand, im Gegensatz zu beispielsweise Depressionen oder Psychosen, welche als episodenhaft beschrieben werden.
Kennzeichnend für Borderline sind starke Ambivalenzen in der Persönlichkeit. In der Fachsprache spricht man von einer emotional-instabilen Persönlichkeit. Starke Gefühlsschwankungen bestimmen den Alltag. Gefühle von Wut, Traurigkeit, Angst oder Euphorie wechseln sich – gefühlt unkontrollierbar – ab. Beziehungen werden intensiv gelebt und gleichzeitig abgelehnt.
Für Borderliner:innen ist es schier nicht aushaltbar, alleingelassen zu werden. Die Angst vor Ablehnung ist allgegenwärtig. Wird Ablehnung empfunden, sind die Reaktionen zumeist heftig und für das Gegenüber überraschend bzw. überfordernd – denn Borderliner:innen fällt es schwer, sich selbst wahrzunehmen. Oft spüren sie die Intensität ihrer Reaktionen auf ihre Mitmenschen gar nicht.
Vielen hilft eine Verhaltenstherapie, um zu lernen, die eigenen Emotionen zu regulieren und für andere nachvollziehbar nach außen zu tragen. Diese Impulsivität zeigt sich nicht nur bei den Emotionen, sondern auch in weiteren Verhaltensweisen. Seien es Beziehungen, Hobbys, Essen oder leider auch Rauschmittel.
Hoher Selbstverletzungsdruck und Anspannung
Viele berichten von einem permanenten Gefühl der Anspannung, das sich nicht lösen lässt. Die Selbstverletzung ist dann mitunter die vermeintlich einzige Möglichkeit, seelischen Druck zu reduzieren. So können sie den emotionale Schmerz mit dem körperlichen ersetzen. Mitunter dient die Selbstverletzung auch dazu, überhaupt ein intensives Gefühl zu generieren, um sich selbst zu spüren.
So oder so, der Leidensdruck wird nach außen hin sichtbar, in Form von Narben oder anderen Verletzungen. Medikamentenmissbrauch oder Drogen sind ebenfalls ein Thema. Entweder um die eigenen Emotionen zu regulieren oder auszuschalten.
Wie du jetzt bereits bemerkt haben dürftest: Nichts an einer Borderline-Störung ist fancy. Für die meisten Betroffenen ist es eine Höllenfahrt. Und nicht nur für die, auch die Angehörigen, Freund:innen oder Kolleg:innen müssen einiges aushalten. Beziehungsabbrüche gehören zum Krankheitsbild. Unberechenbare Gefühlsausbrüche ebenfalls.
Wie wird eine Borderline-Diagnose erstellt?
Zunächst geschieht dies immer durch Fachpersonal, also Psychiater:innen, Neurolog:innen, Psycholog:innen. Diese Menschen haben hierfür die passende Expertise. Alle anderen können nur Vermutungen anstellen. Diese Expert:innen überprüfen, ob folgende Merkmale für eine Erst-Annahme gegeben sind: ein anhaltendes Muster aus instabilen Beziehungen, Selbstbild und Emotionen und ausgeprägter Impulsivität.
Dies zeigt sich durch:
- Verzweifelte Bemühungen, nicht verlassen zu werden
- Gestörte Selbstwahrnehmung – wechselndes Selbstbild, hohe Selbstkritik
- Instabile, intensive Beziehungen, die zwischen Idealisierung und Abwertung der anderen Person wechseln
- Impulsivität, beispielsweise häufiger, ungeschützter Sex mit wechselnden Geschlechtspartner:innen, Binge-Eating, rücksichtsloses Fahren, Drogenmissbrauch
- Wiederholtes suizidales Verhalten, Selbstverletzung
- Schnelle Veränderungen in der Stimmung
- Anhaltendes Gefühl der Leere
- Unpassend intensiver Ärger oder Probleme, die Wut zu steuern
- Temporäre paranoide Gedanken oder schwere dissoziative Symptome
Außerdem müssen Symptome im frühen Erwachsenenalter begonnen haben. Richtig offensichtlich wird die Thematik bei vielen zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr. Frauen sind dabei häufiger betroffen. Die Diagnose selbst wird erst im Erwachsenenalter gestellt, nach der Abnablung vom Elternhaus, wenn Erkrankte ein eigenbestimmtes Leben führen.
Die Diagnostik ist recht umfangreich. Zumeist wird ein sehr mehrseitiger Fragebogen verwendet, sowie intensive Gespräche geführt, bis es zur Diagnose kommt. Dabei geht es auch um die Quantität und Qualität der Symptome.
Was sind die Ursachen einer Borderline-Erkrankung?
Die genauen Ursachen sind noch nicht vollständig geklärt. Fachleute gehen davon aus, dass eine Kombination aus genetischen Faktoren, frühkindlichen Erfahrungen, darunter Missbrauch oder Vernachlässigung und der Art und Weise, wie das Gehirn mit Emotionen umgeht, ursächlich ist.
Wir schauen uns das mal genauer an:
- Genetische Faktoren: Die Forschung hat Hinweise darauf, dass die Erkrankung innerhalb von Familien gehäuft auftritt. Das kann auf eine genetische Veranlagung hindeuten. Bestimmte Gene, die das emotionale Erleben und die Impulskontrolle beeinflussen, könnten die Anfälligkeit für diese Störung erhöhen.
- Frühkindliche Erfahrungen und Traumata: Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung der Borderline-Erkrankung scheint in vielen Fällen mit belastenden oder traumatischen Kindheitserfahrungen zusammenzuhängen. Missbrauch (emotionaler, physischer und sexueller), Vernachlässigung, Instabilität in der Familie oder frühe Trennungen von wichtigen Bezugspersonen können das Risiko erhöhen.
- Emotionale Entwicklung: Wenn Bezugspersonen Kinder nicht vermitteln, ihre Emotionen einzuordnen und zu regulieren, kann dies die Entwicklung von Borderline-Zügen begünstigen. Das Gleiche gilt, wenn Kinder emotional vernachlässigt, ihre Bedürfnisse nicht befriedigt oder wahrgenommen werden.
- Biologische Faktoren: Es gibt Hinweise darauf, dass es bestimmte Veränderungen in der Funktionsweise des Gehirns geben könnte. Besonders in den Arealen des Gehirns, die für die Regulation von Emotionen und Impulskontrolle zuständig sind. Dazu zählt die Amygdala sowie der präfrontale Kortex.
Wirklich gesichert ist hier aber gar nichts. Es sind Annahmen von Expert:innen, an denen sicherlich viel Wahres dran ist. Nur einen validierten, wissenschaftlichen Nachweis gibt es momentan noch nicht.
Die genannten Faktoren können zu einer Borderline-Störung führen. Aber sie müssen es nicht. Jeder Mensch ist einzigartig und geht dementsprechend anders mit Herausforderungen und Traumata um. Persönlichkeitsstörungen sind sehr komplex und lassen sich nicht einfach voraussagen.
Welche Therapie bei Borderline?
Fachleute empfehlen in der Regel eine Psychotherapie. Diese kann sowohl ambulant als auch stationär erfolgen. Hierbei gibt es die Möglichkeit, zu Einzelsitzungen oder Gruppentherapien zu gehen. Beides zeigt gute Erfolge. Im Schnitt beansprucht die Behandlung um die 10 Wochen.
Der Vorteil eines Aufenthaltes in einer Psycho-Somatischen Klinik ist, dass Erkrankte sich voll und ganz auf ihre Behandlung konzentrieren können. Das führt dazu, dass sie schneller Fortschritte erzielen können, weil sie keine äußerlichen Ablenkungen stören.
Diese seelische Erkrankung verschwindet nicht von allein! Im Gegenteil, je länger sie unbehandelt bleibt, umso höher die Chance, dass sich Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Suchtmittelabhängigkeiten dazugesellen.
Welche Therapieform hilft am besten bei Borderline?
Im Fokus stehen dabei zwei Therapieformen, die Dialektisch-Behaviorale Therapie und die Schematherapie. Die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) zielt darauf ab, eine ausgewogene Haltung zwischen der Akzeptanz schwerer psychischer Probleme und dem Streben nach Veränderung und Verbesserung zu finden.
Ein wichtiger Bestandteil dieser Therapie ist das Erlernen von Fertigkeiten (Skills) sowie die Analyse von Situationen. Betroffene lernen, mit intensiven Gefühlen umzugehen und durch spezifische Techniken selbstverletzendes Verhalten zu verhindern.
Die Schematherapie hingegen konzentriert sich darauf, problematische Muster wie schwierige Emotionen, Denkweisen oder Verhaltensweisen (wie Selbstverletzung oder Drogenkonsum) zu identifizieren und Strategien zu entwickeln, um angemessen damit umzugehen. Häufig wird diese Form bei leichteren Ausprägungen angewendet oder nach einer erfolgreichen DBT.
Darüber hinaus finden auch die klassische Verhaltenstherapie und die Familientherapie Anwendung. Je nachdem, was dem:r Patient:inn am besten hilft. Wenn die Gefühlslage sehr schlecht ist bzw. suizidale Gedanken den Alltag bestimmen, kann es zu kurzfristigen Aufenthalten in der Psychiatrie. Das klingt eventuell beängstigend. Dabei ist die Psychiatrie einfach ein Krankenhaus für die Seele und hilft diese zu heilen.
Ein einzelnes Medikament, um alle Symptome zu lindern, gibt es leider nicht. Allerdings werden bei schweren Ausprägungen Bedarfsmedikationen, beispielsweise zur Entspannung, verschrieben. Auch Antidepressiva werden regelmäßig verordnet, insbesondere wenn es gleichzeitig zu depressiven Episoden kommt.
Ist Borderline heilbar?
Leider nein. Es handelt sich hierbei um eine chronische Erkrankung. Das heißt, eine vollständige Heilung ist sehr unwahrscheinlich. Aber die Symptome können gelindert werden. Mithilfe einer Therapie kann gelernt werden, besser mit den Fallstricken der Krankheit umzugehen. Es bedarf viel Kraft und Zähigkeit, aber ein erfüllendes Leben ist auch mit einer Persönlichkeitsstörung machbar.
Je mehr sich Betroffene selber kennen und lieben lernen, umso besser wird es. Es erfordert zwar viel Training, aber auch unsere Gefühle können gezähmt werden. Jeder kann lernen, dass er/sie seinen/ihren Gefühlen nicht bedingungslos ausgeliefert ist. Wir (alle!) können lernen, gesunde und stabile Beziehungen zu führen.
(AOK/Oberberg Kliniken/CHHI)