Wenn aus Magerwahn Magersucht wird
Über den eigenen Körper, das Aussehen und das Gewicht machen sich nur sehr wenige Menschen absolut keine Gedanken. Die Mehrheit ist mit irgendwas an sich unzufrieden und/oder würde gerne abnehmen, schlanker werden – manchmal um jeden Preis. Und das kann zu langanhaltenden Essstörungen, gesundheitlichen Schäden und in Einzelfällen sogar zum Tod führen.
Die Themen ‚schlank sein‘ und Essstörungen beschäftigen mich, seit ich in die Pubertät gekommen bin und verfolgen mich bis heute. Und so geht es leider vielen Frauen (auch Männern, Hauptbetroffene sind aber i.d.R. weiblich). Ein offener Umgang damit und die Kommunikation darüber, ist wichtig, um Awareness zu schaffen und aufzuklären, deswegen habe ich mich dazu entschieden, der Sache auf den Grund zu gehen und meine Erfahrungen zu teilen:
- Definition: Was ist eine Essstörung?
- Ursachen: Woher kommen Essstörungen?
- Symptome: Wie zeigen sich Essstörungen im alltäglichen Leben?
- Folgen: Welche gesundheitlichen Schäden können aus Essstörungen entstehen?
- Zurück zur Normalität: Wie bekommt man Essstörungen wieder los?
Triggerwarnung!
In dem folgenden Erfahrungsbericht geht es um die persönliche, mit Fakten angereicherte, Auseinandersetzung mit Essstörungen. Sollten dich das Thema allgemein, die Begriffe Magersucht, Bulimie oder ähnliches triggern, lies ihn bitte nicht – oder jedenfalls nicht alleine!
Was ist eine Essstörung?
Bei einer Essstörung handelt es sich im wörtlichen Sinne um eine gestörte Beziehung zu Essen und zur Nahrungsaufnahme. Im Grunde dreht sich das Leben der Betroffenen nur darum: ums Essen.
Die drei geläufigsten Essstörungen sind Magersucht, Bulimie und die Binge-Eating-Disorder. Im Alltag wird Magersucht, als bekannteste Essstörung, oft als Oberbegriff für alle diese Formen benutzt und sehr wörtlich ausgelegt, nämlich als die Sucht mager(er)/schlank(er) zu sein oder zu werden. Dabei tritt die Magersucht in der Realität am seltensten auf:
Zahlen und Fakten!
Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärungen leiden von 1000 Mädchen und Frauen im Laufe ihres Lebens
- 28 an der Binge-Eating-Störung,
- 19 an Bulimie und
- 14 an Magersucht.
Rechnet man das auf 1. Million weibliche Individuen hoch, sind das 28.000, 19.000 und 14.000 – also echt eine Menge!
Unterschied zwischen Magersucht und Bulimie?
Bei der Magersucht wird möglichst wenig bis gar keine Nahrung aufgenommen, um das Gewicht rapide zu senken. Bulimie äußerst sich im krassen Gegenteil dazu durch die Aufnahme von enormen Essensmassen – und das meisten in kürzester Zeit. Die Nahrung wird dann aber nicht im Magen behalten, sondern erbrochen. Dadurch werden keine oder nur wenige Nährstoffe aufgenommen und so führt auch die Bulimie zum gefährlich schnellem Gewichtsverlust.
Woher kommen Essstörungen?
Die meisten Essstörungen entstehen aus dem Bedürfnis heraus, dem persönlichen oder allgemeinen Schönheitsideal zu entsprechen und/oder aus einer Art Kontrollzwang. Ersteres ist eigentlich schlüssig, wenn schlank sein als schön empfunden wird – und nur schlanke Menschen als schön betrachtet werden, fühlt man sich gezwungen auch schlank/er zu sein und dafür das Essverhalten zu ändern. Das kann dann zur Essstörung werden.
Aber auch in Zeiten, in denen Menschen das Gefühl haben, komplett die Kontrolle über ihr Leben, ihren Körper oder anderes zu verlieren, kann eine Essstörung entstehen, die ihnen durch die strikten Regularien, bspw. sehr wenig essen, das Gefühl gibt wieder Kontrolle zu haben.
Essstörung und Pubertät
Betrachtet man diese zwei Gründe zusammen, dürfte ziemlich schnell klar sein, wieso so viele junge Menschen, vor allem in der Pubertät, eine Essstörung entwickeln. Sie wollen zum Schönheitsideal dazugehören und die Kontrolle über all die unkontrollierbaren Veränderungen in ihrem Leben und an ihrem Körper zurück.
Bei mir war das jedenfalls so. Ich war bis zu meinem 12. Lebensjahr eine gute Portion übergewichtig, wurde gehänselt, hab aber überall – früher gabs noch keine großartige Body-Diversity – nur schlanke Menschen oder eben schlanke Frauen gesehen: in der Werbung, auf Plakaten, in Filmen. Die hübschen Frauen dort waren alle schlank und nur wer schlank war, hatte Erfolg und hat dann auch den Traumprinzen gefunden. Zwar muss ich jetzt darüber lachen, aber damals eben nicht. Mich hat das so geprägt, dass ich mit 12/13 Jahren beschlossen habe jetzt endlich abzunehmen und schlank zu werden, und zwar egal wie.
Dabei hab ich mich von der ganzen Welt total unter Druck gesetzt gefühlt – fast schon gezwungen, endlich dünn zu sein. Jede Frauenzeitschrift hatte die besten Diättipps abgedruckt, alle meine Freundinnen haben angefangen abnehmen zu wollen, nur noch über Essen und Körper zu reden, Süßigkeiten zu verteufeln – dabei waren wir eigentlich alle noch Kinder …
Leider hatte ich keine Ahnung wie gesundes Abnehmen geht und lange warten wollte ich auch nicht, also habe ich gehungert, so wenig wie möglich gegessen und wenn ich’s nicht mehr ausgehalten habe, ganz viel Essen in mich reingestopft und es wieder erbrochen. So habe ich erschreckend schnell erschreckend viel abgenommen – aber, anstatt dass sich darüber irgendjemand Sorgen gemacht hätte, hab ich Komplimente bekommen.
Das ist leider viel zu lange und immer wieder in meinem Leben passiert: Mein ungesundes Verhältnis zu Essen plus schnelle und starke Gewichtsreduktion wurde mit positiver Aufmerksamkeit, Bewunderung und Anerkennung belohnt. Mein Gehirn hat sich über die Zeit also dazu konditioniert abnehmen und schlanker werden mit positiven Reaktionen zu verknüpfen, quasi ein perfides Belohnungssystem. Das hat zu einer langjährigen Essstörung geführt, die noch heute, 20 Jahre nach der Erkenntnis endlich schlank sein zu wollen, mein Leben mitbestimmt.
Wie zeigen sich Essstörungen im alltäglichen Leben?
Mit einer Essstörung zu leben fühlt sich ehrlich gesagt eher an wie ‚überleben‘ anstatt zu leben. Die Gedanken kreisen ständig und fast ausschließlich ums Essen: wie viel darf ich essen? Wie viel hab ich schon gegessen? Werd ich jetzt dick? Muss ich morgen noch weniger essen?
Bestimmte Lebensmittel habe ich phasenweise radikal von meinem Speiseplan gestrichen, mal war es Zucker, dann waren es fetthaltige Nahrungsmittel, dann waren es die bösen Kohlehydrate. Jahrelang habe ich Brot, Nudeln und Kartoffeln zu meinem persönlichen Feindbild erklärt – und hatte dadurch, irgendwie logischerweise, die ganze Zeit total Gelüste darauf.
Ich hab mich gefangen gefühlt in einem ewigen Kreislauf aus Hunger(n) – Essen – schlechtem Gewissen und dann wieder von vorne. Und wenn man der geläufigen Propaganda der Schönheitsindustrie glaubt, hätte ich dabei verdammt glücklich sein müssen, weil ich doch endlich (!) dünn war! Glücklich war ich deswegen aber nie – und als schlank oder dünn habe ich mich auch nie wahrgenommen. Ich wollte immer noch mehr abnehmen und noch schlanker sein. Zwar hatte ich zeitweise die Kleidergröße XS, im Spiegel habe ich mich aber irgendwie trotzdem minimum als L wahrgenommen.
Body Dysmorphia
Ich hab erst vor kurzem rausgefunden, dass es für genau dieses Phänomen einen Begriff gibt: Body Dysmorphia, Dysmorphophobie oder auch Körperdysmorphe Störung. Dabei handelt es sich um eine Wahrnehmungsstörung, dem eigenen Körper gegenüber. Man sieht sich selbst also total anders als man in der Realität aussieht.
Das klingt jetzt erstmal vielleicht weniger schlimm als es ist – kann aber schwerwiegende Folgen haben. Viele Magersüchtige haben diese Störung und nehmen ihren ausgemergelten, viel zu dünnen Körper eben gar nicht als solchen wahr, können sich also die gesundheitlich prekäre Lage, in der sie sich befinden, nicht bewusst machen. Und das ist verdammt gefährlich.
Bei mir war das Ausmaß zwar nie so gravierend, aber ich seh bis heute kaum einen Unterschied, selbst wenn es sich um Gewichtsveränderungen um die 10 kg handelt, die eben jeder wahrnimmt, nur ich nicht. Eine große Hilfe sind mir da Kleidungsstücke – je nachdem, ob sie enger oder weiter werden, versuche ich bewusst wahrzunehmen, dass ich zu- oder abgenommen habe. So wirklich sehen kann ich das aber bis heute nicht richtig.
Body Dysmorphia – Wie lernt man sich wieder selbst zu sehen?
- Übung 1: Lass Bilder (Ganzkörper) von dir machen und schau sie dir mit etwas zeitlichem Abstand an. Das indirekte Ansehen, also über ein anderes Medium, nicht direkt im Spiegel, führt oft dazu, dass man sich besser wahrnehmen kann.
- Übung 2: Male deine Körperform – und lass dich von anderen malen. So merkst du, ob und wie stark deine eigene Perspektive auf dich von der anderer abweicht.
- Übung 3: Schnapp dir ein Maßband und schätze für dich, wie groß der Umfang deiner Taille/Hüfte etc. ist (einfach erstmal für einen Körperteil entscheiden) – dann misst du nach, wie groß der Umfang wirklich ist.
Welche gesundheitlichen Schäden können aus Essstörungen entstehen?
Das ganze Thema ist irgendwie unschön, aber jetzt kommen wir zu dem wirklich unschönen Part: Was nämlich mit dem Körper und der Psyche passiert, während man an einer Essstörung leidet. In den Hochphasen, also zu den Zeiten, in denen ich wirklich sehr tief in meiner Essstörung gefangen war, hatte ich die folgenden Probleme:
- ständig Hunger
- dauernd müde
- verhältnismäßig grumpy, gefühlt dauernd gereizt
- Schwierigkeiten mich zu konzentrieren und mir Dinge zu merken
- Schwäche- und Schwindelanfälle
- Kopfschmerzen
- Kraftlosigkeit, Motivationslosigkeit, Niedergeschlagenheit
- depressive Verstimmung
Wie gesagt unschön, das sind aber im Grunde auch die klassischen Symptome einer Mangel- oder Unterernährung. Und leider ist das nicht das Einzige, das passieren kann. Denn befindet sich der Körper zu lange in diesem Stadium, kann es zu Haarausfall, dem Ausbleiben der Periode, zu Herz-, Kreislauf-, Magen-, Nieren- und sonstigen Organ-Problemen und Ähnlichem kommen und in Extremfällen sogar zum Herzstillstand.
Ich hatte zwar keines dieser Probleme, muss aber aufgrund der Bulimie-Phasen damit leben, dass ich meinem Magen, meiner Speiseröhre und meinem Würgereflex dadurch längerfristig geschadet habe. Ob das irgendwann wieder besser wird, weiß ich nicht ...
Psychisch führen Essstörungen dazu, dass man das Gefühl für den eigenen Körper, vor allem das Hunger- und Sättigungsgefühl verliert und sich dadurch irgenwie total von den eigenen Körpersignalen entfremdet. Ich wusste lange nicht, was der Unterschied zwischen satt und überfressen ist und wie unterschiedlich sich das eigentlich anfühlt. Auch, ob Portionsgrößen oder die Menge eines Nahrungsmittels zu viel oder zu wenig für den eigenen Körper sind, konnte ich lange nicht einschätzen – und muss ehrlich gestehen: das fällt mir heute noch schwer.
Wie bekommt man Essstörungen wieder los?
Solltest du dich von diesem Artikel angesprochen fühlen, weil du dich in vielem davon wiedererkennst, glaubst an einer Essstörung zu leiden oder schon seit Jahren damit kämpfst, habe ich einen ganz ehrlichen Rat: bitte such dir professionelle Hilfe. Das kannst du über Ernährungsberater:innen, Psycholog:innen, Selbsthilfegruppen, einen Klinikaufenthalt oder Ähnliches machen – da gibt es echt sehr viele Anlaufstellen und Angebote.
Beratungsangebote zum Thema Essstörung findest du bspw.:
Warum sage ich das? Weil Essstörungen selten bis nie von alleine weggehen. Klar kannst du auch versuchen selbst daran zu arbeiten, aber das ist super schwer. Ich versuche das seit Jahren und habs noch immer nicht geschafft komplett davon wegzukommen.
Was mir ein bisschen geholfen hat und was dir vielleicht – bitte nur als Tipps sehen nicht als Behandlungsmaßnahmen! – auch helfen kann, für dich selbst oder als Vorbereitung für professionelle Unterstützung ist:
- Versuchen Triggerpunkte zu erkennen und daran zu arbeiten: Was löst den Drang Gewicht zu verlieren bei dir aus? Wann bekommst du Essanfälle? Welche Gründe kann das haben?
- Versuchen Selbstliebe- und Akzeptanz zu üben: Was findest du gut und schön an dir? – Einfach mal auf das Positive konzentrieren.
- Versuchen Perspektive auf Essen zu verändern: Essen als Treibstoff für deinen Körper betrachten, der dich am laufen hält; nicht als Feind aber auch nicht als Belohnung.
- Versuchen wieder ein Gefühl für den eigenen Körper, Stichwort: Hunger- und Sättigungsgefühl, zu bekommen: Bewusster und langsamer essen; mehr darauf hören und vertrauen, auf was dein Körper gerade Hunger hat; essen bis du satt bist, nicht bis dir schlecht wird.
- Versuchen netter zu dir zu sein: Schlechte, ungesunde Gewohnheiten brauchen Zeit, um sich zu ändern – mach dich bei Rückschlägen nicht fertig, sondern feier deine Erfolge, egal wie klein sie sind, sie sind ein Schritt in die richtige Richtung.
- Versuchen darüber zu reden: Du bist mit deinem Problem nicht alleine und du musst es nicht in dich reinfressen. Über Dinge zu reden, die uns beschäftigen, hilft uns sie besser verarbeiten zu können.
Essstörungen sind weiter verbreitet als viele glauben. Ich selbst kenne persönlich nur eine einzige Frau, die nie in ihrem Leben Probleme mit ihrem Körper, ihrer Figur oder ihrem Essverhalten hatte. Alle anderen haben ein mehr oder minder gestörtes Verhältnis zu Nahrung und ihrem eigenen Körper – und das ist eigentlich einfach nur traurig.
Wir haben nur diesen einen Körper und wir haben auch nur dieses eine Leben, also sollten wir es eigentlich in vollen Zügen genießen und unserem Körper dankbar sein wie toll er funktioniert, uns am überleben hält, und wie gut er aussieht.
Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des/der Betrachters/in, heißt es hält uns eigentlich niemand davon ab uns selbst total schön zu finden – außer eben wir selbst ;-)
(BZgA/SALI)