Health & Selfcare

Selbstoptimierungs-Wahnsinn, zu welchem Preis?

Junge blonde Frau vor dem Spiegel. Sieht unglücklich und traurig aus.
Wenn man sich selbst nicht mehr leiden kann ... (Foto: ©stock.adobe.com/motortion)
Schöner, besser, glücklicher werden? Für viele ist der Weg dahin klar: sich selbst optimieren. Doch dieser Trend kann schnell negative Folgen haben. 
Dienstag, 29.10.2024, 11:30 Uhr, Autor: Sandra Lippet

Obwohl wir in einer sehr diversen Welt leben, in der so vieles möglich und sichtbar ist, werden mir überall nur perfekte Menschen gezeigt - und selbst, wenn sie Makel oder Einschränkungen haben, nicht ins ‚Schönheitsideal‘ passen oder auch mal traurig gucken, sind sie irgendwie trotzdem alle perfekt beim Nicht-Perfekt-Sein

Egal, ob in Filmen & Serien, auf Social Media, Werbeplakaten oder sonst wo. Jede:r ist entweder eh perfekt, perfekt-unperfekt oder versucht einen Weg zur persönlichen Perfektion zu finden, jedenfalls so weit möglich – Stichwort Selbstoptimierung. Wieso wollen so viele eine ‚bessere‘ Variante von sich selbst oder gleich jemand anderes sein?

Sind wir heutzutage einfach so krass unzufrieden mit uns selbst, kommen mit unseren ‚Fehlern‘ nicht mehr zurecht, vergleichen uns zu sehr mit anderen oder sind total überreflektiert? Um der Sache auf den Grund zu gehen, habe ich mich mal ein wenig mit dem Phänomen Selbstoptimierung beschäftigt … 

Dabei sind mir drei Großbaustellen aufgefallen, um die sich irgendwie alles dreht:

  1. Selbstsuche, Selbstfindung, Me Time
  2. Selbstdiagnose - Top 4 Krankheitsbilder: ADHS, Asperger, Hypersensibilität und Depressionen
  3. (Zwanghafter) Versuch, den Körper/das Aussehen zu perfektionieren

Selbstfindung: Wenn aus der Me Time Druck und Stress wird

Vielleicht ist es euch auch aufgefallen: hat man früher wirklich mal ein paar Tage entspannt, fanden das die meisten okay oder sogar cool. In unserer heutigen, überproduktiven Welt, wird das aber plötzlich als Faulheit oder sogar Prokrastination abgestempelt. 

Damals (und dabei ist das echt nicht lange her) hat man sich hingesetzt, sich Gedanken gemacht und Lösung für Probleme gefunden, mit oder ohne Unterstützung, oder einfach Fun gehabt – das war Me Time. Auch mal rumgammeln, tagelang zocken, am See liegen oder in die Luft starren – das war alles Me Time. Dabei war man auch noch größtenteils mit sich alleine oder hat eben Dinge für sich selbst getan, nicht, um sich nach außen hin zu präsentieren. Quasi Me Time in ihrer wörtlichen Bedeutung. Heute müsste man den Begriff eher umformulieren in Pretend To Have Me Time.

Einfach chillen und das Wochenende genießen ist keine ausreichende Me Time mehr, da macht man nämlich ‚nichts‘. Me Time muss aktiv die Selbstsuche fördern, daheim auf der Couch geht das anscheinend nicht, dafür muss man zum Achtsamkeitskurs, aufs Yoga-Retreat, zur Thai-Massage oder gleich monatelang zum Ausspannen und Selbstfinden zu einem Meditations-Guru nach Indien – ansonsten wird das nichts mit dem Selbst, der Suche und Findung

Das suggerieren jedenfalls verschiedene Plattformen und da liegt das Problem: wie unterscheidet man echte Erfahrung von Fakes oder gestellten Inhalten? Woher weiß man, ob dieser ganze – fast schon ins Absurde übertriebene – Selbstfindungs-Hype was bringt? Hier liegt die Krux, denn außer dir selbst, kann dir kein Mensch auf der Welt mit Sicherheit sagen, wer du bist und was dir guttut.

Mein Tipp: Hör eher auf dein Bauchgefühl als auf Selfcare-Influenzer:innen und Coaches, mach das, was dir Spaß macht und das am besten ohne schlechtes Gewissen. Hechte nicht dem so proklamierten ‚richtigen Weg‘ nach, lass dich nicht auch noch privat stressen, indem du vom Yoga zur Massage und dann zum Achtsamkeitstraining sprintest ... 

Falls du aber echt Bock auf einen professionellen Resilienzkurs hast, do it! Aber, weil du das wirklich willst, nicht weil du das Gefühl hast es zu müssen, um dich selbst zu finden. Es ist auch wirklich okay abends oder am Wochenende mal die Couch-Potato zu geben und sinnbefreit Bingewatching zu betreiben, denn auch das braucht man mal. Und ich weiß ja nicht wie’s dir geht, aber eine Serie angucken ist für mich nicht Nichtstun

Selbstdiagnosen: Hilfe, irgendwas stimmt nicht mit mir!

Das Internet ist voll von Menschen, die über ihre Krankheiten berichten und vor allem bei Social Media sind diese 4 die Top-Renner: ADHS, Asperger-Syndrom, Hypersensibilität und Depressionen. Dabei werden detailliert Symptome und Trigger beschrieben, über ‚typische Verhaltensweisen‘  aufgeklärt und Tipps & Tricks für andere Betroffene benannt. So weit, so gut. Denn offen über Diagnosen zu sprechen und anderen damit sogar zu helfen, ist ja an sich nichts Schlechtes.

Aber ... die Zahl derer, die sich von diesen Beschreibungen so angesprochen und verstanden fühlen, dass sie sich darin selbst sehen und überzeugt sind, sie hätten dieses Krankheitsbild auch, ist extrem hoch. Beispiel: Du bist ab und zu hibbelig und kannst dich nicht richtig konzentrieren? ADHS. Du hast Kommunikationsschwierigkeiten und deine Mimik, Intonation gibt nie deine Gefühle wieder? Asperger. Du kommst mal ein paar Tage nicht hoch und fühlst dich kraftlos? Depressionen.

Problematisch wirds aber wirklich, wenn man zwar denkt, man hätte eine dieser Krankheiten, sich aber nicht diesbezüglich untersuchen lässt. Denn, ob dein Verhalten auf eine dieser Diagnosen hinweist, kann dir Social Media, das Internet oder Selina-Joana, die Kindheitsfreundin, die auch daran leidet, nicht beantworten – dafür musst du zu einem/einer richtigen Mediziner:in und dich untersuchen lassen.

Wieso denken aber jetzt so viele bei Videos ADHS-Betroffener sie hätten diese Krankheit auch? Vielleicht, um sich ihre eigenen Ängste, Fehler oder Probleme mit einer Diagnose, einem Krankheitsbild erklären zu können, frei nach dem Motto: I was born this way. Was auch vollkommen in Ordnung und nichts Schlimmes ist, falls das stimmt.

Stimmt das aber nicht, redet man sich eine Krankheit ein, die man gar nicht hat. Und das muss echt nicht sein. Aus Unsicherheit über ein paar Sachen, die einen vielleicht an sich selbst stören, sollte man nicht Doktor Google zurate ziehen, sondern – falls notwendig eine:n echte:n Arzt/Ärztin oder – sich in Akzeptanz üben, sich selbst gegenüber.

Wir sind alle nicht perfekt und das ist ok. Wir sind mal aufgedreht und haben Null Konzentration, Schwierigkeiten uns auszudrücken, nehmen Lautstärke mal krasser wahr oder sind niedergeschlagen – heißt aber noch lange nicht, dass wir alle krank sind oder eine Diagnose brauchen, um uns in unseren Launen, Eigenheiten, in unserer Persönlichkeit und Co. ausleben zu dürfen. 

Selbstbild: Gefangen im Fitness- und Schlankheitswahn

So ziemlich jeder Mensch, den ich kenne, ist mit irgendwas Äußerlichem an sich unzufrieden und würde das gerne ändern – klar, denn auch hier ist das Thema Selbstoptimierung im Trend, und zwar im großen Stil. Von Trainingsvideos und -tipps, über ‚What-I-Eat-In-A-Day‘-Shorts bis hin zur Aufforderung krankhaft wenig zu essen oder Steroide einzunehmen und Co. findet man auf Social Media so ziemlich alles.

Und wir neigen dazu uns zu vergleichen, blöderweise aber vor allem mit Ernährungs- oder Fitness-Influenzer:innen, deren Tagesaufgabe das Essen/Trainieren und Gutaussehen ist. Wir können nicht mithalten, wenn wir Vollzeit in einem Bürojob arbeiten oder in der Uni sitzen und uns eben nicht täglich 8h bewegen. Also fühlen wir uns schlecht – was uns vorgelebt wird, müssten wir doch umsetzen können, oder?

Müssen wir nicht. Es kann im Bereich Sport und Essen sogar gefährlich werden für den vermeintlichen Traumbody total unreflektiert Sachen aus dem Internet nachzumachen. Wieso?

  1. Du kennst die Leute nicht persönlich und weißt nicht, ob sie überhaupt qualifiziert sind, über diese Themen zu reden oder eigentlich nur Laien, die Blödsinn reden und dir damit schaden können.
  2. Jeder Körper ist anders, auch deiner. Was bei einem anderen Menschen wirkt, bspw. bestimmtes Essverhalten, kann bei dir nach hinten losgehen.
  3. Du kannst dich verletzen, wenn du wahllos Übungen aus dem Netz nachmachst, dich mit Sport aber nicht auskennst, und die Übung kontinuierlich falsch machst.

Es ist vollkommen okay sich nicht jeden Tag geil zu fühlen – es ist auch okay, ab und an mal was an seinem Äußeren ändern zu wollen und deinen eigenen Körper zu fordern, aber bitte nicht durch absurde Schönheitsideale und unrealistische Vergleiche mit den falschen Leuten deinen Körper malträtieren. 

Extensiver Sport zusammen mit extensivem Hungern führt nur dazu, dass du Muskelmasse verlierst, dauernd müde und hungrig bist und im besten Fall ausgelaugt, im schlimmsten total fertig aussiehst – eben weil du auch total fertig sein wirst.

Guck bei allen Maßnahmen für deinen Traumkörper immer darauf nicht deine Gesundheit und dich selbst zu vernachlässigen. Super schlank und/oder super muskulös zu sein bringt dir ja dann auch nix mehr, wenn du schlicht keine Energie mehr hast, mit diesem Traumbody was anzufangen!

Gelungene Selbstoptimierung = glücklich sein?

Wir wollen dazugehören und wir wollen glücklich sein – das ist irgendwie menschlich. Mit dazugehören meine ich übrigens ‚gesehen‘ werden und sich einer Gruppe oder Gesellschaft zugehörig fühlen – am besten noch einer, die ähnliche Werte, Vorstellungen und Glücksmomente teilt.

An sich vollkommen normal und auch verständlich. Du solltest eben nur ein wenig aufpassen, dass du dich dafür nicht ‚von dir selbst wegoptimierst‘ sozusagen, um anderen zu gefallen, dich dafür selbst aufgibst und das dann leider dazu führt, dass genau das eben nicht glücklich macht.

Der schönste, reichste, beste Mensch auf der Welt, der alles hat, könnte auch in den Spiegel schauen und sich denken: Gott seh ich Kacke aus. Perfektion muss nicht glücklich machen. Dagegen könnte ein Mensch, der viele Probleme hat und nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht, total happy in den Spiegel sehen und sich denken: nice!

Wieso? Weil Unzufriedenheit eben unglücklich machen kann und Zufriedenheit glücklich – auch mit sich selbst. Und das ist eine Einstellungssache, die nur du ändern kannst. Willst du also zum perfekten, schönen, glücklichen Ich finden? Dann versuch netter zu dir zu sein, dich mit dir und deinem Äußeren anzufreunden und einfach okay mit dir, deinen tollen Seiten und auch Fehlern, zu werden. 

Die Rechnung ist einfach: Zufriedene Menschen sind glücklicher. Glücklichere Menschen haben eine bessere Ausstrahlung. Eine bessere Ausstrahlung macht dich für andere (und dich selbst auch) schöner und sexier. Und um das zu erreichen brauchst du bei dem Selbstoptimierungswahnsinn gar nicht mitspielen, sondern einfach ein bisschen Selbstliebe üben - dann passt das schon!

(SALI)

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